Buchvorstellung: 30 Jahre Kunstprojekte in der Synagoge Stommeln

Besondere Orte in außergewöhnlicher Nutzung mit internationalem Renommee: Zu diesen Adressen zählt zweifelsohne die Synagoge in Pulheim-Stommeln. 1882 als jüdisches Gebetshaus im rückwärtigen Bereich der Hauptstraße eingeweiht, wurde sie 1937 an einen ortsansässigen Landwirt veräußert. Aufgrund ihrer Nutzung als Lagerraum in privater Hand gehört sie zu den wenigen Synagogen in Deutschland, die während der November-Pogrome 1938 nicht beschädigt oder zerstört wurden. Nach seiner „Wiederentdeckung“ Ende der 1970er Jahre erwarb und restaurierte die Stadt Pulheim den Ziegelsteinbau. Dieser ist seit 1991 insbesondere der Gegenwartskunst gewidmet – präziser: künstlerischen Interventionen in der Auseinandersetzung mit dem historischen Ort als Beiträge „zu einer lebendigen Kultur der Erinnerung“.

Dreißig Jahre besteht also das von ihrem 2001 verstorbenen Kulturdezernenten Dr. Gerhard Dornseifer initiierte Kunstprojekt Synagoge Stommeln der Stadt Pulheim. „Außergewöhnliche Ausstellungen bedeutender Gegenwartskünstler sollen für den historischen Gehalt sensibilisieren und das Wissen um die Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft fruchtbar machen“, erläuterte Dornseifer in einem Text aus dem Jahr 2000 das bis heute tragfähige Konzept. Zentral beinhaltet es, dass jährlich ein international renommierter Künstler/Künstlerin eingeladen wird, auf diesen besonderen Ort einzugehen.

Dornseifers prägnanter, anschaulich-erhellender Beitrag über die Geschichte des Backsteingebäudes, die Genese, das Konzept und die Wirkung des Projekts findet sich auch in der zum 30-jährigen Bestehen des Kunst- und Erinnerungskonzepts vorgelegten Publikation „ein Ort – ein Raum – eine Arbeit“. Einleitend steht ein ebenso informatives Grußwort des amtierenden Bürgermeisters Frank Keppeler. In erster Linie dokumentiert die Neuerscheinung chronologisch in Bild und Wort die erfolgten Installationen und Aktionen von Jannis Kounellis in 1991 bis Alfredo Jarr in 2019. In der Auflistung finden sich ebenso klangvolle Namen wie Richard Serra, Georg Baselitz, Mischa Kuball, Eduardo Chillida, Rebecca Horn, Guiseppe Penone, Rosemarie Trockel und Richard Long.

„Ein Ort der Ankunft und des Aufbruchs“

Das Buch macht deutlich: So verschieden die Arbeitsweisen, die Themen und Materialien der Künstler und Künstlerinnen, so individuell ihre Gestaltungen und Lösungen in und für die Synagoge. Sie agieren zurückhaltend bis raumfüllend, greifen minimal bis beachtlich ein, behutsam bis spektakulär, lassen direkt oder mittelbar Verbindungen zwischen Werk und Ort respektive dessen Geschichte ziehen. Bei den Texten handelt es sich in der Regel um die jeweils in den begleitenden Katalogen abgedruckten Einführungen beziehungsweise (nicht) gehaltenen Eröffnungsreden von mehrheitlich Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern. Diese werden hier und dort ergänzt um Stellungnahmen der Ausstellenden zu Entwürfen und deren Ausführungen.

So verzichtete 2014 Gregor Schneider auf einen Eingriff im Innern. Er verkleidete die Synagoge umfassend und verwandelte sie in ein Wohnhaus. „Nicht nur besteht Schneiders Werk darin, die Synagoge zum Verschwinden zu bringen, sondern zugleich ist dieses Werk so angelegt, dass es in seiner Umgebung aufgeht, ohne als künstlerische Arbeit aufzufallen oder erkennbar zu sein“, erläuterte Ulrich Loock in seinem Text. „Zugleich mit der Synagoge wird auch das Werk selber zum Verschwinden gebracht.“

2002 entschied sich Lawrence Weiner, seine deutsch-/englischsprachige Textarbeit „Any given time / irgendwann” auf zwei Segmente der südlichen Außenfassade aufzutragen. Sol LeWitt versah für „Lost Voices“ (2005) den Innenraum wenige Meter vom Eingang entfernt in seiner gesamten Breite mit einer viereinhalb Meter hohen Mauer aus Feldbrandstein. Damit waren zwei Drittel des Raumes, in dem aus Lautsprechern jüdische liturgische Gesänge an die Ohren der Besuchenden drangen, abgesperrt.

Walid Raad und SITU Studio entwickelten unter dem Werktitel „Those that are near. Those that are far“ 2016 im Innern der Synagoge mit reichlich Erde und weiteren Utensilien eine dramatische Szene, die an einen (Flucht)Tunnel erinnerte. „Ein Ort der Ankunft und des Aufbruchs, ein Eingang und ein Ausgang, ein Anfang und ein Ende, ein Ort des Kommens und des Gehens, von oben nach unten oder von unten nach oben, von hier nach dort oder von dort nach hier, von fern nach nah und von nah nach fern – so stellen wir uns die Synagoge Stommeln in diesem Werk vor“, so die Urheber.

Kontroverse Diskussionen

Im Verlauf des Projekts seien „durchaus kontroverse Diskussionen entstanden, die jedoch letztendlich dazu beigetragen haben, wider das Vergessen zu wirken“, stellte Bürgermeister Keppeler zuletzt fest. Dabei wird er auch die Aktion „245m³“ von Santiago Sierra in 2006 im Blick gehabt haben. Der spanische Konzeptkünstler sah darin „eine Arbeit gegen die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust, über das chronische und instrumentalisierte Schuldgefühl, über die Armen und die Armseligen“. Jedoch löste die Umsetzung heftige und breite Kritik nicht nur auf jüdischer Seite aus. Sierra ließ Abgase aus im Stadtraum geparkten Autos über Schläuche in die Synagoge leiten und bot Besuchenden an, mit Atemschutzgerät und in Begleitung eines Mitglieds der Feuerwehr den stark mit Kohlenmonoxid belasteten Raum zu betreten. Dadurch seien die Würde des Ortes verletzt, die Opfer der Shoa verhöhnt worden, lauteten zentrale Punkte der Kritik. Damals veranstaltete die Evangelische Kirchengemeinde Pulheim ein Podiumsgespräch zu Sierras nach wenigen Tagen geschlossener Installation.

In seinem Grußwort zitiert Bürgermeister Keppeler mit Dr. Karl August Morisse seinen Amtsvorgänger. Dieser erinnerte 2000 an die früheren Überlegungen in der Verwaltungsspitze, wie nach ihrer Restaurierung die Synagoge zu nutzen sei. Die Wiederherstellung lediglich einer „leeren Hülle“, so Morisse, sei zwar „bei jedem Gebäude legitim, nicht aber bei einer ehemaligen Synagoge. Ihre Restaurierung muss weitergehenden Zielen dienen: dem Gedenken an die Millionen ermordeter jüdischer Männer, Frauen und Kinder sowie dem Kampf gegen Rassismus, Intoleranz gegenüber Minderheiten und allen anderen Formen von Missachtung der Menschenwürde“. Von Ruinen abgesehen, formulierte Morisse weiter, seien Gebäude keine geeigneten Mahnmale. „Sie werden nicht als solche wahrgenommen. Wer sie zum Gedenken und zur Mahnung nutzen will, muss Wege finden, sie dem Vergessen zu entreißen.“ Auch dieses Buch zum 30-jährigen Bestehen des Projekts trägt dazu bei. Es unterstreicht in der kompakten Zusammenführung der unterschiedlichen ortsspezifischen Installationen, dass Dornseifers Idee eine sehr würdige, geeignete wie weitsichtige Antwort auf Morisses Forderung war und unverändert ist.

Maßgeblich beteiligt an der Verwirklichung der inspirierenden Publikation war Angelika Schallenberg. Nach Dornseifers Tod wurde der Leiterin der Pulheimer Kulturabteilung die künstlerische Leitung des von ihr seit Beginn an betreuten Kunstprojekts übertragen. Unterstützt wird sie dabei von Mischa Kuball.

Ein Ort – ein Raum – eine Arbeit. 30 Jahre Kunstprojekte in der Synagoge Stommeln. Hrsg.: Stadt Pulheim, Angelika Schallenberg. München 2022, 336 Seiten, 140 Abbildungen in Farbe, 29,90 Euro, Hirmer Verlag, ISBN: 978-3-7774-3788-0

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich

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