„Wir brauchen Birlikte“: Kulturfest erinnerte an NSU-Nagelbombenanschlag vor 20 Jahren in der Keupstraße

Birlikte – ein türkisches Wort, das kurz übersetzt „Gemeinsam“ bedeutet. Ein Wort, das aber auch als Symbol für den Zusammenhalt der Menschen unterschiedlicher Kulturen gelesen werden kann. Und so ist es genau die richtige Überschrift für das große Kulturfest, das die Keupstraße an diesem Sommertag zu einem Ort der Begegnung macht, voller Musik, Gespräche, Diskussionen, Lachen, voller Farbe. Es ist ein lebensbejahendes Fest – doch mit einem verheerenden Hintergrund, der wohl den meisten Menschen, nicht nur in Köln-Mülheim, in Erinnerung geblieben ist.

Am 9. Juni 2004, um 15.56 Uhr, verändert das Attentat der Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) in Form einer Nagelbombe nicht nur das Leben der Brüder Hasan und Özcan Yildirim, vor deren Frisörsalon „Kuaför Özcan“ sie detoniert, sodass plötzlich Zustände herrschen, als sei ein Krieg ausgebrochen, Menschen von zehn Zentimeter langen Zimmermannsnägeln getroffen werden. 22 Menschen tragen zum Teil schwere Verletzungen davon, viele weitere berichten bis heute von seelischen Wunden. Denn die Täter werden in der türkischen Community innerhalb der Keupstraße vermutet, selbst die Familie Yildirim, noch traumatisiert vom Geschehen, gerät unter Verdacht, wird davon erst sieben Jahre später freigesprochen. Özcan Yildirim schildert, wie sehr es ihn bis heute trifft, dass er verdächtigt wurde, dass „außer Entschuldigungen kaum etwas passiert ist.“ Aber das mache die psychische und finanzielle Belastung, die auf ihm und seiner Familie gelastet habe, nicht wieder gut, erklärt er bitter.

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der das Fest besucht, auch persönlich mit Hasan und Özcan Yildirim spricht, räumt genau diese Fehler ein. Auf der Bühne an der Keupstraße sagt er nachdrücklich: „Die bittere Wahrheit ist: Wir, Politik, der Staat und seine Sicherheitsbehörden haben die Dimension des rechten Terrors, dessen blutige Spur sich über mehr als zehn Jahre durchs Land zog, lange nicht wahrhaben wollen. Wir waren blind für ein Netzwerk, das aus Rassenhass und menschenfeindlicher Nazi-Ideologie mordete, verletzte und raubte, obwohl es durchaus Spuren hinterließ. Wir haben viel zu lange gebraucht, um Zusammenhänge zu erkennen.“ Als dann die Täter des NSU gefasst waren, habe der Blick erneut nur darauf geruht: „Die Notwendigkeit, auch die Geschichten der Opfer und ihrer Angehörigen zu hören, ihre Erinnerungen wahrzunehmen, geriet in den Hintergrund. Doch innerhalb einer Demokratie können Fehler aufgearbeitet werden.“ Darum sei es wichtig, ein Zeichen fürs Heute zu setzen. „Birlikte heißt das Motto für dieses Fest. Wir setzen ein Zeichen gegen Rechtsextremismus, gegen Rassismus, gegen Menschenfeindlichkeit. Und wir setzen gemeinsam für unser Land ein Zeichen gegen politisch motivierte Gewalt – ganz gleich, von wem sie ausgeht!“

Auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker sind Gäste des Festes, sprechen Grußworte. Um Verzeihung bittet der Ministerpräsident, vor allem für die Ermittlungsfehler in der Zeit nach dem Anschlag. Er betont, dass das Wort „Fremdenfeindlichkeit“ keinen Platz in diesem Diskurs haben sollte: „Wo der Mensch nicht mehr gesehen wird, ist Gewalt nicht weit. Dabei ist Menschlichkeit der Kern unserer Demokratie, nicht Menschenfeindlichkeit.“

„Ein Appell für das respektvolle und friedliche Aufeinandertreffen der Kulturen“

Oberbürgermeisterin Reker erklärt mit Blick auf das von vielen Anwohnern gewünschte Mahnmal: „Ich bin zuversichtlich, dass das künftige Denkmal eine einprägsame Erinnerungsstätte sein wird. Sie wissen, dass hinter uns ein schwieriger, langwieriger Prozess liegt, vor allem aufgrund der Eigentumsverhältnisse am geplanten Ort. Die Inhalte, die dort künftig gezeigt werden, geben wir als Stadt nicht vor. Ein Kuratorium aus Ihnen – einem Teil der Menschen hier vor Ort – zusammen mit dem städtischen NS-Dokumentationszentrum erarbeitet ein Konzept. Dies garantiert die Teilhabe der Zivilgesellschaft, was mir persönlich sehr wichtig ist.“ Weiter betont sie, dass Birlikte eins deutlich mache: „Wir stehen zusammen. Der heutige Tag ist ein Appell für das respektvolle und friedliche, das lebensfrohe und gelassene Aufeinandertreffen der Kulturen. Die Keupstraße ist ein Ort, der sich dynamisch weiterentwickelt, ein Ort, an dem Köln lebt und der den Willen zum friedlichen Miteinander besonders ausstrahlt.“

Das friedliche Miteinander zeigt sich symbolträchtig, als Özcan Yildirim seine Redezeit mit der Bitte abschließt, dem in Mannheim, mutmaßlich von einem Islamisten, getöteten Polizisten Rouven Laur zu gedenken.

Und er zeigt sich im Interreligiösen Gebet, zu dem der Rat der Religionen eingeladen hat. 27 Religionsgemeinschaften und Verbände der Stadt Köln haben sich darin zusammengefunden. Auf der Bühne stehen Stadtsuperintendent Bernhard Seiger, der an diesem Tag auch das katholische Stadtdekanat und den Katholikenausschuss der Stadt Köln vertritt, Pfarrerin Dorothee Schaper, Rafet Öztürk, Dialogbeauftragter der DiTiB der Türkisch Islamischen Union in Köln und Deutschland, Abraham Lehrer, Vorstandsmitglied der Kölner Synagogengemeinde in der Roonstraße und stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland.

So betont der Stadtsuperintendent: „Heute an diesem Ort verbinden uns das Eintreten für unsere Demokratie und der Kampf gegen rechte Ideologien, die die Würde von Menschen infrage stellen und Keile in unsere Gesellschaft treiben. Uns eint in den Religionen der Respekt für den Schöpfer, dem wir unser Leben verdanken. Uns verbindet das Gebot der Nächstenliebe. Es ist eine tiefe Einsicht, dass wir Kinder Gottes sind, jeder von uns, gleich welche Herkunft er oder sie hat, gleich welchen Glauben oder Nicht-Glauben jemand hat.“ Er bitte um eine kurze Stille, die jede und jeder nach eigener Tradition und Sprache füllen kann.

Ebenfalls um eine Schweigeminute bitten die Moderatorinnen Ebrar Ekinci und Sibel Schick um 15.56 Uhr. Es senkt sich Stille über die zahlreichen Gäste, viele stehen von ihren Plätzen auf, neigen respektvoll die Köpfe, falten ihre Hände. Vergessen ist keine Option, das Erinnern und Aufeinander-Zugehen ist wichtig.

Wie fragil das Gefühl der Sicherheit ist, wird deutlich, als das Bühnenprogramm um die Mittagszeit herum gestoppt wird. Zwei Sprengstoffspürhunde der Polizei haben angeschlagen. Der Bereich rund um die Bühne, dazu ein Teil der Keupstraße, werden abgesperrt, das Bundeskriminalamt ist vor Ort. Knapp zwei Stunden dauert es, bis Entwarnung gegeben werden kann. „Ausgerechnet hier und ausgerechnet heute passiert so etwas“, meint eine Passantin bedauernd und Meral Sahin, Vorsitzende der Interessengemeinschaft Keupstraße, sagt: „Wir, die wir uns noch gut an den Anschlag erinnern, haben alle sofort wieder gezittert. Die Wunden sind immer noch tief. Aber genau darum brauchen wir Birlikte. Das gibt uns Stärke.“ Birlikte sei die einzige Art und Weise, diesen Tag, den 9. Juni, zu bestehen.

Text: Katja Pohl
Foto(s): Matthias Pohl

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