Menschen wollen wieder dazugehören – Diakon Tobias Knöller über Eintritte und die Zukunft der Kirche

Weniger Mitglieder und höhere Austrittszahlen: das vermeldete die Evangelische Kirche in Deutschland vor kurzem für das Jahr 2022. Zum Stichtag 31. Dezember 2022 gehörten insgesamt 19,15 Millionen Menschen einer der 20 Gliedkirchen der EKD an. Das sind rund 2,9 Prozent weniger als im Vorjahr. Im Jahr zuvor betrug der Rückgang 2,6 Prozent. Die Zahl der Ausgetretenen liegt mit 380.000 rund ein Drittel höher als 2021. Aber es gibt immer wieder auch Menschen, die in die Evangelische Kirche neu eintreten oder nach einem Austritt zurückkehren. Darüber hat kirche-koeln.de mit Diakon Tobias Knöller gesprochen. Er leitet die Evangelische Kircheneintritts- und Informationsstelle Köln.

Herr Diakon Knöller, mit welchen Fragen oder Gründen kommen die Menschen zu Ihnen? Was bewegt sie zum Wiedereintritt?

Tobias Knöller: Wir hatten im letzten Jahr 81 Eintritte. Und 81 verschiedene Gründe. Was oft genannt wurde, war das Patenamt, also viele wollten Patentante oder Patenonkel werden. Manche wollten auch in einer evangelischen Einrichtung anfangen zu arbeiten, in einer Kita, im Krankenhaus, im Altenheim. Die Gründe sind ganz unterschiedlich. Einige Gespräche sind auch sehr seelsorgerlich. Weil manche Menschen wirklich auch negative Erfahrungen mit der Kirche gemacht haben. Homosexuelle Menschen zum Beispiel, die in der Vergangenheit noch Ausgrenzung erleben mussten. Was heute, Gott sei Dank, anders ist.

Gibt es denn so etwas wie Trends? Sind die Menschen heute stärker auf der Suche und wenden sich im Zuge dessen auch wieder mehr den Kirchen als traditionellen Sinnanbietern zu?

Tobias Knöller: Was ich beobachte ist: ein großer Vorteil unserer evangelischen Kirche ist ihre Pluralität. Nicht jede Gemeinde muss gleich sein. Es gibt zum Beispiel das politische Spektrum. Da engagiert man sich viel für Klimaschutz, für Gleichberechtigung und da können die Menschen andocken. Es gibt das spirituelle Spektrum. Die Leute kommen durch einen Meditationskreis oder einen Pilgerweg wieder zur Kirche. Es ist ganz vielfältig.

Heißt das, man müsste stärker Schwerpunkte setzen? Dass zum Beispiel Menschen, die sich besonders für das Klima engagieren, in Gemeinde A zugehörig fühlen und Menschen, die sich etwa für das gesellschaftliche Miteinander in der Stadt engagieren, in Gemeinde B etc.?

Tobias Knöller: Genau! Und dass man sich auch zugesteht, unterschiedlich zu sein. Und diese Diversität dann auch aushält im Miteinander. Das hat ja auch etwas mit Toleranz zu tun. Ich fände es gut, wenn es noch weiter in diese Richtung gehen würde. Lassen Sie es uns mal ganz konkret machen: die Kölner Innenstadt ist eine große Gemeinde. Und jeder Gottesdienststandort hat ein eigenes Profil. Die einen sind ganz politisch unterwegs, die anderen eher spirituell und geistlich. In der einen Kirche können sie einen queere Partynacht erleben, in der anderen eine evangelische Messe mit Weihrauch. Diversität als Reichtum verstehen – darum geht es. Wir brauchen keine Uniformität.

Wenn jemand zu Ihnen kommt, was passiert dann? Steht der bei Ihnen in der Tür, meldet der sich vorher an? Gibt es typische Abläufe?

Tobias Knöller: Es müssen gewisse Unterlagen mitgebracht werden: das ist die Austrittsbescheinigung vom Amt, die Taufbescheinigung und dann können wir den Wiedereintritt gestalten – sofort. Wir führen dann noch ein Gespräch zusammen, in einem geschützten Rahmen und dann wird der Eintritt vollzogen. Ich mag das Wort niederschwellig gar nicht so gerne und suche immer ein Synonym dafür, aber es ist tatsächlich niederschwellig. Es ist nicht kompliziert, wieder in die Kirche einzutreten, ganz im Gegenteil.

Trifft derjenige, der in die Kirche neu oder wiedereintritt, eine sehr bewusste Entscheidung? Steht Ihrer Erfahrung nach ein Weg mit viel Reflexion dahinter: warum will ich das jetzt, warum tut mir das gerade gut oder anderes?

Tobias Knöller: Was mich berührt, sind wirklich Lebensgeschichten, Biografien. Da merke ich immer wieder, dass Gott in deren Leben gewirkt hat und dass er sie nie ganz losgelassen hat. Dass es einen Punkt in ihrem Leben gab, vielleicht auch eine Krise oder eine existenzielle Erfahrung, andere Menschen, die etwas in ihnen bewegt haben. Das führt sie dann nochmal zum Glauben zurück. Viele sagen auch, sie haben den Glauben wiederentdeckt für sich, haben den lange alleine gelebt, haben ein gutes Buch gelesen, sind im Wald spazieren gegangen, haben da gebetet. Letztendlich sind sie dann aber doch darauf gekommen, dass der Glaube allein nicht so funktioniert, dass man auch den Austausch braucht, die Gemeinschaft – vielleicht auch mal den nötigen Gegenwind.

Gibt es jemanden, an den Sie sich besonders erinnern?

Tobias Knöller: Ich hatte mal einen jungen Mann, der ist in der Corona-Zeit nach Köln gezogen, um hier zu studieren und kannte keinen. Dann kam der Lockdown und man konnte keine neuen sozialen Kontakte knüpfen. Er ist aus der Kirche sehr früh ausgetreten und hat dann von seiner Mutter über YouTube immer die Links zugeschickt bekommen zu den Gottesdiensten seiner Heimatgemeinde. Und dann sah er seinen alten Pfarrer wieder, jeden Sonntag auf YouTube. Auch die Kirche, in der er getauft und konfirmiert wurde. Das hat ihn so berührt und das hat ihm so gut getan und war ihm ein Halt in dieser Zeit, in der Fremde und in der Einsamkeit, dass er zu uns gekommen ist und gesagt hat, er will das wieder rückgängig machen: „Ich will wieder dazugehören.“

Gibt es umgekehrt Menschen, die durch Schicksalsschläge lange gezweifelt und geglaubt haben, dass Gott ihre Familie verlassen hat, und die dann gemerkt haben, da war doch immer irgendwie eine Verbindung?

Tobias Knöller: Das kommt gar nicht so selten vor, dass Menschen durch eine Krise gehen oder gerade in einer sind, und deswegen nochmal den Kontakt zur Kirche suchen. Es gibt auch Menschen, die zu mir kommen, weil sie wissen, dass es nicht mehr gut ausgeht. Die aber den Wunsch haben, christlich bestattet zu werden und deswegen in die Kirche eintreten wollen. Das berührt mich oft sehr. Ich frage dann immer, ob ich den zuständigen Pfarrer oder die Pfarrerin informieren soll, ob derjenige nochmal ein Seelsorgegespräch haben will. Dann sagte mir mal jemand: „Ja, sagen Sie der verlorene Sohn ist wieder da – aber er ist alt und krank geworden.“ Es ist nicht nur ein Job, es ist eine Berufung, das hier zu machen. Und es ist schön, Menschen –wieder – zu begleiten und auch mit offenen Armen zu empfangen. Diese seelsorgerliche Komponente ist etwas, das mich oft sehr berührt und beschenkt und dankbar macht.

Was ist für Sie an dieser Stelle das Wichtigste?

Tobias Knöller: Meine Stelle steht ja auch für eine Kirche, die an ihre Zukunft glaubt und daran, dass es wichtig ist, in ihr Mitglied zu sein. Das ist mir auch persönlich wichtig. Ich will nicht Mitglied einer Kirche sein, die ihren eigenen Untergang organisiert. Es ist auch eine spirituelle Aufgabe im Moment, weil diese vielen und hohen Austrittszahlen natürlich auch etwas mit unseren Gemeinden machen. Ich bin hier an einer Stelle, an der ich manchmal denke, kämpfst du hier eigentlich gegen Windmühlen – kannst du etwas gegen diese hohen Austrittszahlen machen? Da muss ich manchmal aufpassen, dass ich mir das nicht zu sehr zu Herzen nehme, weil ich so mitleide und mich so sehr mit meiner Kirche identifiziere. Ich wäre heute nicht der, der ich bin, würde es diese Kirche nicht geben und die Diakonie. Die Kirche hat mich an entscheidenden Stellen in meinem Leben geprägt und gefördert. Das will ich zurückgeben.

Das ist ja letztlich auch das, was Menschen wieder oder neu anzieht. Wenn man Menschen begegnet, die ihren eigenen Weg haben, ihre Erfahrungen, eine positive Ausstrahlung und auch den Glauben, dass es nicht nur einen Gott gibt, sondern dass es sich auch lohnt, mit dieser Kirche unterwegs zu sein. Und dass auch diese Kirche eine Zukunft hat.

Tobias Knöller: Die Kirche durchläuft im Moment eine Umbruchszeit. Ich mag das Wort Krise nicht so gerne, das wird oft so inflationär benutzt. Aber das hat sie schon immer, die Kirche war noch nie in stabilem Fahrwasser. Wie die Kirche von morgen aussieht, das wissen wir nicht, das können wir gar nicht wissen. Und ich denke auch, wir sollten uns nicht immer nur mit uns selber beschäftigen. Wir beschäftigen uns immer nur mit den Fragen nach morgen und mit unseren Strukturen. Wir sollten lieber die Zeit nutzen, um das Evangelium mit den Menschen zu leben. Und auch wenn die Kirche von morgen eine ganz andere sein wird und wir sie institutionell gar nicht mehr wiedererkennen, wird es trotzdem Kirche sein. Es wird immer Menschen geben, die sich nach Jesus Christus ausstrecken und ihm nachfolgen. Und die werden dann Kirche sein. Davon gehe ich ganz fest aus.

Das Team hat aktuell 12 Ehrenamtliche. Wer Interesse an diesem Dienst hat, kann sich in der Eintrittsstelle melden. Die Evangelische Kircheneintritts- und Informationsstelle ist an der Antoniterkirche, Schildergasse, angesiedelt. Regelmäßig stehen Mitarbeitende für das „Offene Ohr“, ein offenes Gesprächsangebot, zur Verfügung.

www.eki-koeln.de

Text: Hildegard Mathies
Foto(s): Evangelische Kircheneintritts- und Informationsstelle Köln

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