Melanchthon-Akademie stellt die wichtige Arbeit der Arolsen Archives vor – und ein sehr persönliches Einzelschicksal
Trotz ihrer unermesslichen Bedeutung sind die Arolsen Archives außerhalb von Fachkreisen vergleichsweise wenig bekannt. Dabei befindet sich im nordhessischen Bad Arolsen das internationale Zentrum über NS-Verfolgung. Hervorgegangen ist es aus frühen Such- und Hilfsstrukturen der Alliierten. Es verfügt über das weltweit umfassendste Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. In Arolsen sind weit über 30 Millionen Dokumente archiviert. Sie enthalten Hinweise zu über 17,5 Millionen Opfern der NS-Verfolgung. Die sogenannte zentrale Namenkartei, „das erste und wichtigste Instrument in Arolsen“, umfasst heute 50 Millionen Karten.
Allein die von Alliierten in befreiten Konzentrationslagern noch aufgefundenen Dokumente würden aufeinandergestapelt deutlich höher als die Zugspitze reichen. Das stellte Dr. Henning Borggräfe in einer Veranstaltung der Melanchthon-Akademie (MAK) im Haus der Evangelischen Kirche anschaulich fest. „Und das setzt sich in anderen Sammlungsbereichen so fort“, informierte der Direktor des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln.
„,Jeder Name zählt‘. Die Arbeit der ,Arolsen Archives’“ – zu diesem Thema hatte die MAK in Person von Studienleiter Dr. Stefan Hößl neben Henning Borggräfe Markus Zimmermann, Superintendent des Kirchenkreises Köln-Nord, eingeladen. Der Pfarrer der Evangelischen Begegnungsgemeinde Köln berichtete von der insbesondere durch die Arolsen Archives unterstützten Recherche seiner Familie zu seinem Großvater Heinrich Eduard Miesen. 1947 starb der NS-kritische Journalist an den Folgen seiner Haft im Konzentrationslager Dachau.
Ausstellung und Dokumentenbestände auch online
Henning Borggräfe ist ein intimer Kenner der 1948 in Arolsen gegründeten Organisation International Tracing Service/ITS (Internationaler Suchdienst). Von 2015 bis 2022 leitete er deren Abteilung Forschung und Bildung. In diese Phase fällt auch die Umbenennung in „Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution“. Mit konzipiert hat der Historiker die 2019 vor Ort eröffnete erste Dauerausstellung über die Geschichte, Entwicklung und Aufgaben der Einrichtung: „Ein Denkmal aus Papier“. In seinen Ausführungen orientierte sich Henning Borggräfe an der Struktur dieser Präsentation. Sie ist, ebenso wie die in den letzten Jahren umfangreich digitalisierten Dokumentenbestände, auch online zu besuchen.
Internationale Organisation
Die Arolsen Archives seien keine deutsche, sondern aus ihrer Gründungsgeschichte heraus internationale, seit 2012/13 unabhängige Organisation, informierte Henning Borggräfe. Geleitet werde sie von einem Ausschuss, gebildet von elf Mitgliedsstaaten/Vertragspartnern. Ihre Finanzierung obliege aus historischer Verantwortung der Bundesregierung. „Seit 2013 sind die Arolsen Archives Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes.“ Sie beinhalteten Dokumente zu den verschiedenen Opfergruppen des NS-Regimes, auch zur Zwangsarbeit sowie zu Displaced Persons und zur Migration nach 1945. Neben diesem riesigen Archiv bestehe ein eigenes institutionelles Archiv. Dieses wachse aufgrund der fortgesetzten Dokumentationsarbeit laufend weiter. Jährlich besuchten bzw. kontaktierten schriftlich rund 20.000 Personen die Einrichtung insbesondere zwecks Vermisstensuche und Schicksalsklärung.
„Denkmal aus Papier“
Drei Überlegungen lägen dem ,Denkmal aus Papier‘ zugrunde, erläuterte Henning Borggräfe. Zum einen stehe dieses Papier für die kaum fassbaren Dimensionen der NS-Verbrechen. Zugleich mache es sie im Konkreten greifbar – „in ungezählten Einzelschicksalen, die von Verfolgung, Verschleppung, Ermordung aber auch von Überleben, Wiederfinden und Neuanfang berichten“. Zweitens zeuge dieses Papier, das bei vielen Angehörigen für Erinnerung stehe, von den ganz unterschiedlichen Folgen und Auswirkungen der NS-Verbrechen: von Verlust, vom Weiterleben, von der Suche nach einer neuen Heimat, von schweren Verletzungen auch in der Nachkriegszeit, von Unterstützung, stückweiser Anerkennung, aber auch Ausgrenzung, beispielsweise in der Frage der Entschädigung. Drittens habe der Umgang mit dem Papier als alltägliches Arbeitsmaterial des ITS, der Umgang mit diesen historischen Zeugnissen einem tiefgreifenden Wandel unterlegen.
Henning Borggräfe führte zentral zu vier Bereichen und Erzählebenen aus. Zunächst blickte er auf die Suche und Dokumentation in der frühen Nachkriegszeit. „Die Alliierten trafen schon in den vormals von Deutschland besetzten Ländern auf hunderttausende Menschen, die von den Nazis ihren Familien entrissen, in Lager und zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren“, schilderte Henning Borggräfe die Ausgangslage. In Deutschland selbst hätten sich bei Kriegsende etwa 10,8 Millionen sogenannte Displaced Persons (DP) befunden: darunter insbesondere sowjetische Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Flüchtlinge und befreite Lagerinsassen. „Auf der anderen Seite waren überall in Europa Millionen von Menschen auf der Suche nach diesen Verschleppten.“ Um dieser gewaltigen humanitären Aufgabe gerecht zu werden, hätten die Alliierten Such- und Hilfsstrukturen aufgebaut. Dabei hätten sie zurückgegriffen vor allem auf Selbsthilfe-Initiativen von Überlebenden. Ab März 1945 seien dezentral in den befreiten umliegenden Ländern und bald darauf in den verschiedenen Besatzungszonen Suchbüros eingerichtet worden.
„Suche hieß damals nicht nur Suche nach Vermissten, sondern ebenso die Suche nach Dokumenten, weil relativ schnell klar wurde, dass aufgrund des millionenfachen Massenmordes viele Gesuchte sich nie mehr würden melden und Dokumente Auskunft über ihr Schicksal geben können.“ Auch in Arolsen habe man zusammengetragen, „was für diese Suche hilfreich erschien“. Warum ist dort letztlich die zentrale Sammel- und Sucheinrichtung entstanden? Arolsen habe damals relativ nahe am Schnittpunkt von drei Besatzungszonen gelegen, und die Struktur der dort genutzten ehemaligen SS-Kaserne sei weitgehend unzerstört geblieben, erklärte Henning Borggräfe.
Auskünfte für Entschädigungsverfahren
In einer Welt ohne Computer und moderne Informationsverarbeitungssysteme sei „das erste und wichtigste Instrument in Arolsen“ die sogenannte zentrale Namenkartei gewesen. Diese nannte Henning Borggräfe „den zentralen Schlüssel, mit dem das Archiv über Jahrzehnte funktionierte und im Kern bis heute funktioniert“. Die Suche im engeren Sinne habe die Einrichtung bis Anfang der 50er, 60er Jahre ganz wesentlich beschäftigt. Mit dem Rückgang dieser Tätigkeit sei ein deutlicher Anstieg der „eher standardisierten Auskunft aus dem Archiv für Entschädigungsverfahren“ verbunden gewesen. Jüdische und politische Verfolgte hätten bei Behörden Entschädigungen beanspruchen können. Dagegen seien anderen Opfergruppen, beispielsweise als „soziale Außenseiter“ und vermeintliche kriminelle Inhaftierte seitens der Behörden eine Anerkennung als politisch oder, im Fall von Sinti und Roma, rassistisch Verfolgte verwehrt geblieben. Denn bei der Ausstellung der Inhaftierungsbescheinigungen habe man sich in Arolsen unkritisch auf die Informationen von NS-Dokumenten gestützt. „Die Selbstbeschreibungen der Betroffenen hatten keine Chance.“
Frage von Offenheit und Abschottung
Arolsen habe schon in den 60er Jahren, in denen hierzulande kaum jemand von der konkreten Verfolgung habe hören wollen, begonnen sich zu öffnen. Damit einhergegangen sei eine starke Vernetzung mit Opferverbänden. Henning Borggräfe sparte auch kritische Aspekte in der Geschichte der Institution nicht aus. Zu den Schattenseiten zählte er den mitunter sehr schlechten Umgang mit Überlebenden und Angehörigen von Opfern, zählte er den eingeschränkten Zugang zum Archiv. Henning Borggräfe datierte diese wichtige negative Kehrtwende in die achtziger Jahre. Statt Auskünfte zu erteilen habe man es in Arolsen als wichtiger erachtet, Dokumente zu sammeln. Diese Abschottung gegenüber der Öffentlichkeit und der Ausschluss von Forschenden habe sich in den Neunzigern verstärkt. Die erneute Öffnung der Einrichtung 2008 habe man internationalem wie nationalem Druck zu verdanken.
Zentrale Aufgaben der Arolsen Archives heute
Seit 2013, fasste Henning Borggräfe zusammen, gehörten zu den zentralen Aufgaben in Arolsen (weiterhin oder wieder) das Sammeln, Schützen und Restaurieren, die Personensuche, Dokumentation und Beantwortung von Anfragen sowie die Forschung und Bildung. Das Online-Archiv solle die internationale Bereitstellung eines freien, offenen Zugangs zu Informationen gewährleisten. Genau dazu, speziell nach dem Umgang mit sensiblen Daten, fragte Moderator Hößl in der abschließenden Diskussionsrunde. Für Henning Borggräfe ist der Schutz von Daten und damit von Personen gegenüber Rechercheinteressen ein sehr wichtiges Thema. So könnten Familien beispielsweise von im NS als vermeintliche Verbrecher oder aufgrund ihrer Homosexualität Inhaftierte ungewollt geoutet werden. „Ein Dilemma, das sich nicht auflösen lässt“, plädierte Henning Borggräfe für eine Kompromissfindung. Nicht alle Dinge dürften der allgemeinen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.
Digitales Denkmal „#everynamecounts“
Der Veranstaltungstitel „Jeder Name zählt“ beziehe sich auf die junge Crowdsourcing-Initiative „#everynamecounts“, so Henning Borggräfe. Mittels dieser entstehe ein digitales Denkmal für die Opfer der NS-Verfolgung. Dabei unterstützten ungezählte Freiwillige Arolsen Archives dabei, Namen und Daten von Millionen historischen Dokumenten digital zu erfassen. Alle Interessierten seien eingeladen, es ihnen gleichzutun. Henning Borggräfe sieht in dem Projekt „ein sehr gutes Beispiel, wie durch Mitarbeit von Bürgerinnen und Bürgern weitreichende Erinnerungskultur entstehen kann“.
Pfarrer Markus Zimmermann berichtete über familiäre Spurensuche
In Arolsen sei erst in den letzten Jahren die Tätigkeit in den Vordergrund getreten, Menschen auf familiärer Spurensuche mit Dokumenten zu unterstützen, so Henning Borggräfe. Über seine Erfahrungen berichtete Pfarrer Markus Zimmermann in einem zweiten intensiven Beitrag. Dabei gewährte der Superintendent einen intimen Blick in die Geschichte seiner Familie. Ausgangspunkt des Kontakts mit der ihm zuvor unbekannten Einrichtung in Nordhessen war 2010 ein Vorschlag seiner Frau Susanne: Die älteste Tochter Julia könne doch ihre anstehende Facharbeit im Geschichtsleistungskurs über Heinrich Eduard Miesen schreiben. Der Journalist war Markus Zimmermanns Großvater. 2013 in Köln-Nippes geboren, verstarb er im August 1947 an den Folgen der schrecklichen Haftbedingungen im Konzentrationslager Dachau. Susanne Zimmermann, so ihr Mann, habe mit ihrer Empfehlung zudem gehofft, dass auch die mit Miesens Schicksal verbundenen „traumatischen Erfahrungen für unsere Familie – im Grunde ein Tabu-Thema –“ aufgearbeitet werden könnten.
Miesen hinterließ Frau und drei Kinder. „Die Geschehnisse haben meine Großmutter so traumatisiert, dass sie darüber nie viel erzählt hat“, so Markus Zimmermann. In ihrem Nachlass habe sich ein Brief seiner Großmutter an ihn und seine Geschwister befunden mit der ausdrücklichen Aufforderung, „dass wir weiter erinnern. Nicht nur an den Großvater, sondern dass so etwas nicht mehr passieren darf.“ Bei seiner mit 48 Jahren verstorbenen Mutter sei ihm erst im Nachhinein klargeworden, welchen großen Kummer sie zeitlebens mitgeschleppt habe. „Sie hat es einmal erzählt: Ich kann mir nicht verzeihen, dass ich meinen Vater nicht wiedererkannt habe, als er aus Dachau kam.“
Die für die Recherche zunächst kontaktierte KZ-Gedenkstätte Dachau empfahl der Familie, sich nach Arolsen zu wenden. Wenige Tage nach seinem Anschreiben erhielt Markus Zimmermann auf einer CD-Rom gespeichert die dort liegenden Dokumente zu Miesen. „Wir waren sehr dankbar. Jetzt kann man das alles mit wenigen Klicks im Internet aufrufen“, weiß der Pfarrer um den Fortschritt. Neben den digitalisierten Dokumenten aus Arolsen habe die Tochter auf ein Exemplar des in einem kleinen Kölner Verlag 1947 publizierten Tagebuchs ihres Urgroßvaters auch über die Zeit der Gefangenschaft zurückgreifen können.
Seinem katholisch getauften Großvater sei mit der Machtübertragung an Hitler aufgrund einer „Grunderkrankung von Asthma“ die Fortsetzung des Medizinstudiums verwehrt geblieben, flocht Markus Zimmermann in einem biografischen Abriss ein. Stattdessen habe er weiter Germanistik und Philosophie studiert, über Nietzsche promoviert und eine Anstellung bei der katholisch ausgerichteten Kölnischen Volkszeitung gefunden. Ein regimekritischer Artikel habe zu einer ersten Hausdurchsuchung bei den in Sülz wohnenden Großeltern geführt. Daraufhin habe die Großmutter eine Fehlgeburt erlitten. Der Großvater sei mit mehreren Wochen Berufsverbot belegt worden. Nach Gleichschaltung der Presse habe Miesen „interessanterweise“ einen Redakteursposten beim von ihm verhassten NSDAP-Parteiorgan Westdeutsche Beobachter erhalten. Er sei einfach dankbar gewesen, Geld verdienen zu können, erfuhr Markus Zimmermann einmal von seiner Großmutter.
Über Ehrenbreitstein nach Dachau verschleppt
Als Kulturredakteur in den Niederlanden habe Miesen auch dort unter Beobachtung der Gestapo gestanden, wies der Superintendent auf Kontakte zu Menschen hin, „die im weiteren Sinne zu Widerstandsgruppen gehörten“. Nachdem er am 9. November 1938 einer attackierten jüdischen Familie tatkräftig zur Seite gesprungen sei, „wurde er selbst zusammengeschlagen und ins EL-DE-Haus“ verbracht. In Köln ausgebombt, habe die Familie bei einem Bauern in einem Dorf im Westerwald Zuflucht gefunden. Doch der auf sie angesetzte Gastgeber habe ihr Bedauern über das missglückte Attentat im Juli 1944 mitgehört und gemeldet. Der Großvater sei zunächst in der Koblenzer Festung Ehrenbreitstein inhaftiert und bald darauf nach Dachau verbracht worden. „Er war in der Lagerbibliothek eingesetzt.“ Und dort habe er sich unter anderem mit dem niederländischen Journalisten und Antifaschisten Nico Rost angefreundet. „Das Schöne für uns ist, dass Rost in seinem veröffentlichten Tagebuch ´Goethe in Dachau´ an manchen Stellen eben auch Szenen mit meinem Großvater erwähnt.“
Nach der dramatischen Befreiung Dachaus Ende April 1945 durch die US-Armee habe Miesen aufgrund einer Erkrankung mit vielen anderen Häftlingen weiter im Lager bleiben müssen. „Man war zwar befreit von den Verbrechern, aber man war weiter gefangen.“ Bis zur Entlassung im Juni habe er die Schriftleitung der Lagerzeitung „Der Antifaschist – Stimme der Deutschen in Dachau“ innegehabt. Auf DIN A4-Blättern seien ein-, zweimal die Woche einerseits Berichte über aktuelle Ereignisse erschienen. Zudem habe Miesen eigene und die Gedanken anderer darüber festgehalten, wie es in Deutschland weitergehen könne. Markus Zimmermann findet es „ganz wunderbar“, dass sein Ansatz eine Verbindung von Christentum und Sozialismus gewesen sei.
Alliierte hätten ihm aufgrund seiner Fähigkeiten sogar vorschlagen, in einem neuen Deutschland politisch tätig zu werden, konnte Markus Zimmermann den postalisch erhaltenen Unterlagen entnehmen. Zu diesen Dokumenten gehört auch die Auflistung der von Miesen mitgeführten Dinge beim Eintreffen in Dachau. „Es ist genau registriert. Überhaupt wurde alles geordnet bis dorthinaus“, so der Pfarrer. Ihn und seine Familie bewege es natürlich sehr, über diese schriftlichen Erinnerungen zu verfügen. „Archive sind ein unglaubliches Hilfsmittel, um Menschen wieder ´lebendig´ zu machen: Um aus (Häftlings)Nummern wieder Menschen werden zu lassen“, zollte Markus Zimmermann am Ende seiner Darstellung großen Respekt. „Ich bin dem Archiv in Arolsen sehr dankbar, die Dokumente sind für uns ein großer Schatz.“ Er sei seinem Großvater nochmal nähergekommen. Als Enkel eines politisch Verfolgten zeigte er sich in der abschließende Runde dankbar, „dass es auch das NS-DOK in Köln gibt“.
Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich
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