Interview: Umgang mit Angst durch den Krieg in der Ukraine

Angesichts des Krieges in der Ukraine erleben viele Menschen Bedrohung und Stress in einer bisher oft unbekannten Intensität. Alte, stressvolle Situationen, die bisher gut bewältigt waren, können wiederauftauchen. Dies kann körperliche Reaktionen sowie vermehrt Sorge, Angst oder Hilflosigkeit hervorrufen. Wilfried Depnering, Pfarrer i.R., Systemischer Therapeut, Traumatherapeut und Dozent bei der Melanchthon-Akademie des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region, zeigt auf, mit welchen Mitteln dem Stress in seinen vielfältigen Formen begegnet werden kann. Ein Interview:

Welche Emotionen kann die Ungewissheit durch den Krieg in der Ukraine bei den Menschen auslösen?

Wilfried Depnering: Das sind ja viele Dinge, die einen Trigger auslösen, die einen beschäftigen. Wir sehen, wie Menschen in der Ukraine umgebracht werden. Die allermeisten von uns hätten nicht damit gerechnet, dass ein richtiger Krieg in Europa so nah an deutschen Grenzen entstehen würde. Putin spricht ja sogar von einem atomaren Schlagabtausch – das wäre eine Vernichtung von hunderttausenden Menschen. Es ist von daher auch ganz bewusst mit Angst gespielt worden. Das kann große Ängste auslösen. Der Krieg bringt Menschen mit massiver Unsicherheit in Kontakt, die man sonst so im Alltag nicht spürt. Dagegen kann man sich erst einmal nicht wehren. Das kann man nicht verhindern. Ganz wichtig zu wissen: Diese Reaktion ist nicht verrückt, sondern ganz normal. Wir Menschen sind so angelegt, dass unser Nervensystem auf Bedrohung reagieren kann und reagieren muss. Es wäre eher bedenklich, wenn wir keine Ängste verspüren würden. Alleine das auszusprechen, dass Angstreaktionen normal sind, kann Ängste verringern.

Was ist ein hilfreicher Umgang mit Ängsten?

Wilfried Depnering: Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten. Ich möchte dazu eine eigene Geschichte erzählen, die vor mehr als 20 Jahren passiert ist. Ich war auf der Landstraße mit meinem Auto unterwegs, als auf einmal das mir entgegenkommende Fahrzeug auf meine Fahrbahn fuhr. Ich dachte, wir krachen zusammen, und habe instinktiv das Steuer umgerissen, damit ich auf den Seitenstreifen fahren konnte. Dann hat der andere Fahrer mitgekriegt, dass er auf meiner Spur war, und ist wieder auf seine Spur eingeschwenkt. Und als alles vorbei war, habe ich angefangen wie verrückt zu zittern, mir haben richtig die Glieder geschlackert. Ich dachte dann: „Mein Gott Wilfried, es ist doch jetzt alles vorbei, was soll das?“ Durch meine Ausbildungen habe ich dann gelernt, dass das eine völlig normale, gesunde Reaktion war. Denn es kostet den Körper sehr viel Energie, so schnell richtig zu reagieren. Diese zur Rettung bereitgestellte Energie muss hinterher entladen werden.

Wie sieht so eine Entladung aus?

Wilfried Depnering: Ein Beispiel: Wenn Tiere in der Natur gejagt werden, werden sie nicht traumatisiert oder erleiden chronischen Stress wie wir Menschen. Wenn Tiere entkommen sind, schütteln sie sich und die Energie wird entladen. Letzen Endes brauchen auch wir Menschen als Säugetiere ebenfalls eine Form der Entladung der in der Stresssituation aufgestauten Energie. Entladung geschieht in der Situation der Sicherheit, wenn die Stressenergie nicht mehr benötigt wird. In meinem Beispiel entlud sich die Energie durch Zittern, nachdem der Unfall vermieden worden war. In anderen Situationen ist es hilfreich, wenn mir jemand sagt: „Du bist mit deiner Angstreaktion ganz normal.“ Da erlebe ich, da setzt einer meiner Selbstkritik etwas entgegen. Dann kann sich das Nervensystem beruhigen. Vielleicht entsteht ein Zittern am ganzen Körper oder der Bauch gluckert, vielleicht lacht oder weint man unwillkürlich. Bewegung wie Joggen oder Tanzen können helfen. Das alles sind hilfreiche Stressreaktionen.

Haben Sie noch weitere Hilfestellungen?

Wilfried Depnering: Auf den Krieg mit der Ukraine bezogen heißt das, dass wir uns selbst sagen können: „Wir sind derzeit nicht selbst bedroht.“ Wir lesen die Nachrichten in der Zeitung oder sehen die Nachrichten im Fernsehen. Aber der Ort selber, wo wir die Nachrichten empfangen, ist sicher. Wir erleben die Bedrohung, aber es ist wichtig davon zu unterscheiden, dass wir im Augenblick n Deutschland in einer relativ sicheren Umgebung sind. Die Frage ist: Wo ist die Gefahr wirklich und wo wird sie durch die Bilder des Fernsehens hervorgerufen? Hierbei möchte ich betonen, dass die Vorstellungskraft grundsätzlich normal und wichtig ist. Sie warnt. Um den Stress zu entladen, können auch verschiedene Körper – und Klopfübungen hilfreich sein.

Und dann?

Wilfried Depnering: Wenn wir ruhiger geworden sind, können wir uns mit unserem intuitivem Körperwissen verbinden und uns als Nächstes fragen: „Wenn mein Körper reden könnte, was würde er mir jetzt sagen?“ Oder „Welche Ressourcen, welche hilfreichen Erfahrungen habe ich mir im Laufe meines Lebens erworben, die mir jetzt helfen könnten?“ Oder „Wer in meinem Umfeld könnte mir guttun?“ Das kann beispielsweise der Freund oder die Freundin sein, die neben mir sitzen und meine Hand halten, wenn mir nach Weinen zumute ist, weil mir das Leid der Menschen in der Ukraine nahegeht. Wohltuend ist auch, mit dem Freund oder der Freundin eine Tasse Tee zu trinken oder eine bestimmte Musik zu hören. Selbstfürsorge ist wichtig. Dazu gehört auch, den Nachrichtenkonsum zu dosieren und nicht den ganzen Tag den Fernseher laufen zu lassen, also bewusst Grenzen zu setzen.

 

Seminar „Stress begegnen: Kraft und Zuversicht in krisenhaften Zeiten erhalten“

Der Workshop „Stress begegnen: Kraft und Zuversicht in krisenhaften Zeiten erhalten“ von Wilfried Depnering bei der Melanchthon-Akademie unterstützt dabei, Stress und Sorgen in ihren vielfältigen Formen zu begegnen. Die Teilnehmer erfahren am 11.9. von 11-17 Uhr auf dem Hintergrund von EmotionAid Wege, wie sie sich körperlich und in ihren Gedanken beruhigen können, um so ihre eigene Handlungsfähigkeit auch unter Stress und Belastung zu erhalten. EmotionAid ist eine Selbsthilfemethode, die einen in Kontakt mit den eigenen Ressourcen bringt. Anmeldung in den nächsten Wochen auf: www.melanchthon-akademie.de

Text: Frauke Komander
Foto(s): Wilfried Depnering

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