Gedenken an den 82. Jahrestag der Pogromnacht 1938

Musikalischer Gottesdienst in der Antoniterkirche

„Erinnern ist nach wie vor wichtig. Manchmal denke ich, es wird in diesen Zeiten immer wichtiger“, begrüßte Prädikant Martin Weiler in der Antoniterkirche rund 25 Menschen zum Gedenken an die Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Seit vielen Jahren schon gedenke man in der evangelischen Kirche an der Schildergasse mit einem musikalischen Gottesdienst der gezielten Gewaltaktionen gegen die jüdische Bevölkerung. „Seit zwei Jahren ist der 9. November 1938 in der evangelischen Kirche ein offizieller Gedenktag.“ Auch in der Pandemie, in der leider viele Gedenkveranstaltungen hätten abgesagt werden müssen, könne man sich hier zum Gottesdienst versammeln.

Dieser war geprägt von Erinnerung und Gegenwartsbezug. Von starken, bittenden wie fordernden Worten, ganz stillen Momenten – und Musik. So vertieften Organist Johannes Quack, Kantor an der Antoniterkirche, und die Kölner Oboistin Ina Stock eindringlich das Gedenken. Einfühlsam trugen sie Kompositionen von Carl Philipp Emanuel Bach und Georg Philipp Telemann vor. Ebenso erklangen Jean Langlais´ „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ für Orgel und Oboe sowie abschließend Erik Saties „Lent et douloureux“. Drei Stücke der von Benjamin Britten 1951 für Solo-Oboe komponierten „Sechs Metamorphosen“ nach Ovid führte Stock in direkter Verbindung zur Predigt auf.

Mit den musikalischen Beiträgen habe man dem Ernst des Tages gerecht werden wollen, so Kirchenmusikdirektor Quack. „Es ging uns auch darum, den Zuhörenden Raum für eigene Gedanken zu geben.“ Die Stücke, erläuterte Stock, sollten das unfassbare Geschehen spürbarer machen. Ebenso betonte Weiler, dass ein solches Gedenken über das gesprochene Wort hinaus des musikalischen Ausdrucks bedürfe.

Predigt

Seine Predigt über 1. Petr. 5, 8-9 gliederte Weiler in drei Impulse. Zunächst erinnerte er an die historischen Ereignisse. Mit der Machtübernahme Hitlers habe umgehend eine drastische Stimmungsmache gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland eingesetzt. „Sehr schnell werden auch Gesetze erlassen, die nach und nach immer mehr Rechte einschränken. Es ist ganz klar: Jüdinnen und Juden sind Menschen zweiter Klasse – und sie werden nach und nach aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens entfernt.“

Nur wenige Jahre habe es bis zur Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz von Jüdinnen und Juden gedauert. Innerhalb kurzer Zeit seien aus gleichberechtigten Mitgliedern der Gesellschaft rechtlose „Untermenschen“ geworden. Der 9. November 1938 markiere den Übergang von der Diskriminierung und Entrechtung der deutschen Jüdinnen und Juden hin zur systematischen Verfolgung und Ermordung.

Demut, Zuversicht und Wachsamkeit

In seinen Gedanken zum Predigttext bezog sich Weiler auch auf die zwei Verse vor der gelesenen Epistel. Er hört drei Dinge aus dieser Briefpassage heraus. Erstens Demut, unverändert „ein wichtiges Wort“. Es stehe uns allen an, nicht uns selber groß zu machen – und damit implizit andere Menschen klein, sagte Weiler. „Demütig sein heißt, sich seiner eigenen Kleinheit, seinem eigenen Angewiesensein auf Gottes Gnade bewusst zu sein.“

Wir dürften uns nicht von unseren eigenen Ängsten und Sorgen beherrschen lassen, nannte Weiler zweitens. Wir dürften darauf vertrauen, dass Gott für uns sorge – und daher „zuversichtlich in die Zukunft schauen, egal wie die Gegenwart im Moment aussieht“.

Drittens müssten wir wachsam sein gegenüber dem Bösen, „das immer auch in unserer Welt ist“. „Wenn wir demütig sind und uns selbst nicht in den Vordergrund stellen, wenn wir sorglos sind in dem Sinne, dass wir uns von Gott geliebt wissen, dann können wir auch furchtlos sein und uns dem Bösen entgegenstellen“, bietet laut Weiler der Dreiklang aus dem Petrusbrief ein wenig Hilfestellung.

Widerstand

In seinem dritten Impuls ermutigte Weiler zum Widerstand heute. Was 1933 als Diskriminierung und Entrechtung im Alltag begonnen habe, sei in der physischen Vernichtung von Menschen gemündet. „Heute vor 82 Jahren erlebten wir in Deutschland einen Zivilisationsbruch (…) Heute vor 82 Jahren begann die physische Vernichtung der Juden.“ Nur drei Jahre später seien industrielle Vernichtungsmaschinen in Gang gesetzt worden, um möglichst effizient und schnell eine große Menge von Menschen ermorden zu können. „Niemand will es in diesen Details gewusst haben. Heute wissen wir: die Menschen haben einfach nur weggeschaut.“

Als wahr bezeichnete Weiler den Dietrich Bonhoeffer zugeschriebenen Satz „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“. „Ich finde, Mystik und der Widerstand gehören zusammen. Wenn wir unseren Glauben ernst nehmen, dann ist Widerstand Pflicht. Dann müssen wir einen Standpunkt beziehen, wenn Minderheiten unter uns diskriminiert werden. Denn vor 82 Jahren haben wir gesehen, wohin die Gewöhnung an Diskriminierung führen kann.“ Aber es funktioniere auch andersherum: „Unser Glauben kann uns erst ermöglichen, Widerstand zu leisten. Denn was auch immer uns in dieser Welt passieren kann: Wir können nie tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Deswegen könnten wir uns auch furchtlos einsetzen für die Menschen, „die uns brauchen“.

Erinnern und Lernen

Ein Gedenktag wie der heutige solle uns daran erinnern, dass hier nie wieder Menschen Angst haben sollten, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden. „Leider passiert das jeden Tag bei uns“, appellierte Weiler an die Gemeinde, wachsam zu sein und einzuschreiten, „wenn uns Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit oder Homophobie begegnet“.

Weiler wies in den Gebeten darauf hin, dass der ewige Gott, der seinen Bund geschlossen habe mit dem Volk Israel für alle Zeiten, uns an die Seite seines Volkes rufe. „Heute denken wir daran, dass viele unserer Vorfahren diesen Ruf nicht gehört haben. Wir erinnern uns an die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, an brennende Synagogen, an Parolen des Hasses, an Gefangennahme, Plünderungen und Morde.“ Er bat Gott um Kraft zu dieser Erinnerung: „Schenke uns Mut, uns der Verantwortung zu stellen, und Demut, damit wir ein neues Miteinander lernen.“

Schließlich bat Weiler Gott, uns fähig zu machen, „aus den schändlichen Tagen unserer Geschichte wirklich zu lernen, damit kein bösartiges Vorurteil, keine Lüge, die Hass und Gewalt den Weg bereiten soll, unwidersprochen bleibt, auch wenn sie heute andere Gemeinschaften treffen, die zu unseren Nachbarinnen und Nachbarn geworden sind“.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich

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