„Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages“ – Osterpredigt von Stadtsuperintendent Bernhard Seiger

Die Predigt der Osternacht hat Stadtsuperintendent Bernhard Seiger in der Trinitatiskirche gehalten. Er bezog sich auf den Predigttext Jesaja 26,13-14.19. Der Pfarrer sprach über den Krieg in der Ukraine, den Tod, soziale Ungerechtigkeit und tiefe Trauer – aber auch über die Kraft von Musik, Resilienz, Neuanfänge, Lebensfreude, innere Stärke und Wunder.

Hier können Sie die Osterpredigt von Stadtsuperintendent Bernhard Seiger lesen:

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, Liebe Gottes …

Liebe Gemeinde!

Die Mitte der Nacht.

Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages. Das wissen wir. Das ist die Erfahrung, dass nach einer langen Nacht der neue Morgen mit neuem Licht und neuer Kraft beginnt.

So einfach ist das aber oft nicht. Es gibt auch seelisch dunkle Stunden in der Nacht. Die Selbstgespräche, das Reflektieren über das, was vorgefallen ist. Durch das Dunkle ins Licht zu kämpfen, ist Arbeit und Mühe.

Einen solchen Bogen beschreibt auch der Predigttext für diese Nacht, Jesaja 26,13-14.19.

Im Buch des Propheten Jesaja werden im Umfeld allerhand bedrückende Dinge beschrieben: “Finsternis bedeckte das Erdreich und Dunkel die Völker.”, heißt es dort.

Unfriede und soziale Ungerechtigkeit werden benannt.

Gegen das Erleben des Leids richtet die Gemeinde ihre Hoffnung auf Gott den Schöpfer. Ich lese die Worte des Propheten, sie sind ein Gebet.

“Herr, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns als du, aber wir gedenken doch allein deiner und deines Namens.

Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf; darum hast du sie heimgesucht und vertilgt und jedes Gedenken an sie zunichte gemacht.

Aber deine Toten werden leben, deine Leichname werden auferstehen. Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde!

Denn ein Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird die Toten herausgeben.” (Jes. 26, 13-14, 19)

Die Worte des Jesajas sind nüchtern in der Beschreibung der Macht des Dunklen: Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf. Ja, die Toten von Butscha, die Opfer der Bombenangriffe auf Mariupol und der Toten in den Schützengräben von Bachmut werden nicht mehr lebendig.

Es gibt all die ukrainischen und russischen Mütter und Väter und Frauen und Kinder, die trauern. Und die Angst der Kameraden auf beiden Seiten vor dem, was ihnen noch blüht.

Jesaja benennt die harte Grenze, die uns der Tod setzt. Wir alle wissen von den Grenzen, die der Tod Menschen, die wir gekannt und geliebt haben, setzt.

Oft zur rechten Zeit, aber nicht selten auch zur Unzeit.

Jesaja räumt der Klage weiten Raum ein, und das ist gut. Wir wissen vielen Seelenwegen, dass Verdrängen und Wegschauen nicht helfen. Nur das Ansehen und aktive Suchen nach Wegen kann in eine andere Zukunft leiten.

Jesaja beschreibt den Weg aus der Sackgasse.  Ein Blick nur auf die Welt wäre wahrscheinlich trostlos. Der Blick von Gott auf unsere Welt lässt aber Neues aufscheinen. „Deine Toten werden leben. Deine Leichname werden auferstehen.“ Für Gott sind sie ein Gegenüber. Keiner ist namenlos. Und seine Wege gehen weiter.  Deshalb gehören diese Worte mit den beiden Polen „Klage und Hoffnung“ in die Osternacht.

Im Osterevangelium haben wir eben die Zukunft verkündigt gehört: Den drei Frauen, die durch Verlust und Sorge tief gebeugt im Morgengrauen zum Grab gehen, begegnet der auferstandene Christus mit den Worten: “Seid gegrüßt … Fürchtet euch nicht. Friede sei mit euch”. – Das Ende des Todes. So lautet die Botschaft.

In Jesajas Gebet gewinnen wir einen neuen Blick auf die Zukunft durch Gottes Wirken:

“Herr, unser Gott, es haben wohl noch andere Herren als du über uns Macht“, (Vers 13) aber eben:

Ein Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird die Toten herausgeben.“ (Vers 19)

Wohl sind sie noch da, die Todesengel. Leben zerstören sie, und Zukunft wollen sie mit großen Steinen verschließen:

Diktatoren, die die Freiheit mit allen Mitteln unterdrücken. Menschen, die sich um sich drehen, und nicht merken, wieviel Leid sie anderen zufügen.

Boten des Todes sind überall dort am Werk, wo Menschen durch ihr Verhalten anderen die Luft zum Atmen nehmen.

Aber Gott lässt in dieser Finsternis den Anfang des Tages aufscheinen.

Gottes Aber!  Es setzt ganz auf die Hoffnung.

Im Grunde geht es in der Osternacht und der Botschaft von Ostern um Resilienz,

um das Lernen von Widerstandskraft angesichts des Bedrückenden.

Diese Resilienz ist nicht bruchsicher, aber sie kann lebenslang immer wieder entdeckt und gefördert werden.

Resilienz kann man kultivieren, also einüben.

Die Osternacht ist – wie jede gute Liturgie – eine Resilienzübung.

Sie ist mit Anstrengung verbunden, aber sie stärkt die Seele. Durch das Dunkel zum Licht kommen. Resilienz entwickelt die eigene Seele und schafft ihr neue Freiheit.

Innere Widerstandskraft hilft der Seele. Wenn sich unsere Seele die Momente bewusst macht, in denen es ihr gut geht, hilft es, wenn wir uns in der Lebensführung danach richten. Resiliente Menschen haben eine innere Amme, eine Geburtshelferin, die dafür sorgt, dass sie nicht aufgeben.

Resilienz können wir an Johann Sebastian Bach lernen. Wir werden gleich seine Kantate „Es ist das Heil uns kommen her“ hören.

Bach hatte es immer wieder schwer in seinem Leben und musste in ungewöhnlichem Maße Verluste von nahen Menschen verkraften. Als Bach 9 Jahre alt war, waren schon zwei seiner Geschwister und ein Vetter gestorben. Im selben Jahr starb seine Mutter. Ein Jahr später auch sein Vater. Mit 10 Jahren war er Vollwaise. Er wurde aufgefangen in der Großfamilie. Gestärkt haben ihn die Gemeinschaft und die Musik. Musik und Gemeinschaft als Resilienzkräfte.

Er erlebt später den Tod von zwei eigenen Kindern.  Seine Frau Maria Barbara stirbt, als er auf einer Konzertreise ist. Als er zurückkommt, ist sie schon begraben. Er ist da 35 Jahre alt. Er heiratet wieder, und auch in dieser Familie  sterben wieder Kinder. Man kann sagen, die Kindesterblichkeit war im 18. Jahrhundert hoch, aber der Schmerz verwaister Eltern wird gleichwohl da gewesen sein, auch wenn man dafür vielleicht nicht die Worte hatte.

Bach findet in allen Verlusten Halt und Trost in der Musik. In seinen Rezitativen spüren wir die Tiefe, weil er die traurigen Gefühle kannte. Und er erlebte die Lebensfreude, und daher strahlt seine Musik diese Festigkeit aus. Bach legt in seine Kantaten ein Gespür für die Trauer und zugleich für das Überraschende des Aufbruchs, des Neuen, das da wächst. Die Melodieführungen, die Wendungen und Farben bilden die Farben der Seele ab und bringen die Worte der Verheißung, das Unverfügbare zum Klingen in uns.

Wir können daher sagen: Das Singen und die Aufführung einer Kantate sind auch eine Resilienzübung.

Es tut der Seele gut, Gutes zu hören. Das ist die Osterbotschaft: Gegen alles Dunkle und durch es hindurch kommen die neuen Stimmen des Morgens und des neuen Lebens.

Nach dem Verlust geht es weiter. Menschen können neu anfangen. Das Gestern kann erinnert werden, aber es bestimmt nicht mehr die Lebensfreude von heute.

Jesaja nutzt in seinen Worten das starke Bild vom Morgentau. Morgentau fällt, ohne dass Menschen ihn regulieren. Täglich stellt sich Morgendämmerung ein, ohne dass Menschen die Sonne heraufziehen. Jeder Morgen ist ein solches Wunder, auch wenn wir es in unserer Geschäftigkeit nicht sehen. Ostern hilft uns hinzusehen und die Kraft des Unverfügbaren zu sehen. In unserem Leben gibt es auch solche Ostererfahrungen in verschiedenen Mutanten. Welche waren das wohl bei Ihnen?

Liebe Gemeinde, die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages. Es ist gut, diesen Moment in der Osternacht einmal im Jahr zu erleben, zusammen mit anderen. Ein Erleben wie in Bachs Leben: Worte des Trostes, Musik und Gemeinschaft.

“Christ ist erstanden”, haben wir gesungen.  Mit unseren Kerzen halten wir die Hoffnung auf die anbrechende Morgenröte des Ostertages in der Hand.

Der Glaube zeigt sich wie ein Vogel, der schon singt, wenn es noch finster ist. Der Glaube ahnt schon voraus.

Und zum Schluss die Taube auf dem Liedblatt aus der Schlosskirche von Torgau an der Elbe: Sie ist Erinnerung an die Sintflutgeschichte, die wir hörten. Und sie ist Zeichen für den Frieden, der uns nach dem Krieg in der Ukraine und all den anderen kleinen und großen Kämpfen verheißen wird.

Amen.

Und der Friede Gottes, der weiter reicht als all unser Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus, unserem Herrn. Amen.

Text: APK
Foto(s): APK/Archiv

Der Beitrag „Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages“ – Osterpredigt von Stadtsuperintendent Bernhard Seiger erschien zuerst auf Evangelischer Kirchenverband Köln und Region.