„Buch und Brot“ in der Melanchthon-Akademie: Studienleiter empfehlen inspirierende Literatur

Es ist eine liebgewonnene Tradition, dass die Studienleiterinnen und -leiter zur Semester-Eröffnung in der Melanchthon-Akademie zu Jahresbeginn Bücher vorstellen, die sie zu Seminaren und Projekten des neuen Akademie-Programms inspiriert haben. Akademieleiter Dr. Martin Bock eröffnete den Abend unter dem Motto „Buch & Brot“ mit einem Zitat von Pablo Picasso: „Kunst schaffen bedeutet, den Staub aus den Seelen des Alltags zu schütteln.“ Das Bild passe zu Büchern. Die seien ja auch häufig staubig, wenn man sie aus dem Regal ziehe. Mit dem Lesen werde dieser Staub Teil des Lebens. Bock verriet dann kein Geheimnis: „Wir wollen Sie mit den Büchern, die wir heute Abend vorstellen, in unsere Veranstaltungen locken. Lassen Sie sich überraschen.“

Die Bücher stellten die Studienleiterinnen und -leiter in Zwiegesprächen vor. Als erste trafen sich Lena Felde und Lea Braun auf der kleinen Bühne. Lea Braun ist eine neue Kollegin in der Melanchthon-Akademie. Sie verantwortet in der Akademie die Bereiche Persönlichkeitsentwicklung, Kommunikation und Gesundheit und vertritt für zweieinhalb Jahre Daniela Krause-Wack, die ein Kind bekommen hat. Braun hatte das Buch „Anleitung ein anderer zu werden“ von Edouard Louis ausgesucht. Der sei in prekären Verhältnissen aufgewachsen und schlage in diesem Buch einen eindrucksvollen Bogen zwischen seiner eigenen Biographie und gesamtgesellschaftlichen Problemen. Bei dem autobiographischen Roman handele es sich um eine „reflektierte Aufstiegsgeschichte“, eine „gesellschaftsrelevante Fiktion“. Louis beschreibe, wie er seine Persönlichkeit anpasst, um seine Herkunft zu verbergen. Nicht nur die Sprache verändere er mit allergrößter Selbstdisziplin. Sogar seine Art zu lachen modifiziere er konsequent. „Das alles geschieht natürlich nicht ohne Wachstumsschmerzen und Brüche in der Biographie“, sagte Braun. Derlei Brüche interessieren sie besonders, wobei sie in der Melanchthon-Akademie keine neoliberale Selbstoptimierung betreiben, sondern die ganze Persönlichkeit in den Blick nehmen möchte.

Edouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden. 272 Seiten. Aufbau-Verlag, 24 Euro.

Joachim Ziefle empfahl das Buch von Norbert Wohlfahrt „Revolution von rechts? Der Antikapitalismus der Neuen Rechten und seine radikalpatriotische Moral – eine Streitschrift“. Das sei ein „schräger Titel, den ich auf den ersten Blick eher der Linken zugeordnet hätte“, erklärte Ziefle. Norbert Wohlfahrt ist Professor für Sozialmanagement an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Seine Themenfelder sind moderne Gerechtigkeitstheorien, die Folgen kapitalistischer Entwicklung für die soziale Arbeit und Kritik an sozialen Inklusionspolitiken. Nun hat er sich auf 160 Seiten mit der neuen Rechten beschäftigt, die sich von der alten Rechten wie der NPD distanziere. „Die neue Rechte wirft dem historischen Faschismus ein gewisses Desinteresse an Volk, Heimat und den Tugenden vor“, sagte Ziefle. Mit Rechten jüngeren Datums, wie sie mit den Republikanern hoffähig geworden sei, könnten die neuen Rechten auch nichts anfangen. Ihnen gehe es vor allem um eine Abgrenzung zu den wirtschaftlichen Eliten und das „Wir zuerst“ im Sinne von Donald Trump. „Das Denken gründet sich auf den Volksbegriff. Alles Globale wird abgelehnt. Auch die allgemeinen Menschenrechte haben sie nicht im Programm. Die sind nämlich nicht national, sondern universal“, so Ziefle. Kritik werde auch geübt am Sozialstaat. Der werde als Betreuungsmaschinerie betrachte, die den Einzelnen in Lethargie und zu Egoismus führe. Und der Sozialstaat sei aus Sicht der Rechten grundsätzlich nur für die da, die „hier in homogenen Gefügen aufgewachsen sind“. Jedem werde ein Recht auf sein Volk zugestanden. Die Völker sollten aber gleichgültig nebeneinander leben. Arbeiter und Kapitalisten würden gleichsam als Opfer des Systems verstanden, das zu Einsamkeit und brutalem Wettbewerb führe und das dem sittlichen Wert des Menschen keine Beachtung schenke.

Revolution von rechts? Der Antikapitalismus der Neuen Rechten und seine radikalpatriotische Moral – eine Streitschrift. 160 Seiten. VSA-Verlag. 14,80 Euro.

Dorothee Schaper hat das Buch „Den Schmerz der anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ mit großem Erkenntnisgewinn gelesen. „Die Autorin und Journalistin Charlotte Wiedemann hat die große Gabe, komplizierte Dinge unkompliziert auszudrücken“, sagte die Studienleiterin und Pfarrerin. Wiedemann sei in den 50er Jahren geboren worden und habe erlebt, dass im Prinzip alles totgeschwiegen worden sei und es keine Erinnerungskultur gegeben habe. Es gebe „zwei große Schmerzen“, was die Erinnerung angehe. Den Holocaust und das postkolonialistische Erbe. Wiedemann denke die Stränge zusammen und suche Antworten auf die Fragen „An was wollen wir uns in Deutschland erinnern und an was wollen sich die Menschen woanders erinnern?“ Menschen von „woanders“ leben in Deutschland. Wiedmann, so Schaper, fordere „transnationale Erinnerungsräume“. Es dürfe keine Aufmerksamkeitskonkurrenzen geben und keine Hierarchien von Leiderfahrungen. Man müsse den Schmerz zusammen denken und begreifen. „Wir brauchen Beistand und ein warmes geschwisterliches Sprechen.“

Charlotte Wiedemann:  Den Schmerz der anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis. 288 Seiten. Propyläen Verlag. 22 Euro.

Ein ganz anderes Thema treibt Dr. Martin Horstmann um. Er hat sich mit dem australischen Philosophen auf den Weg gemacht, um „New Words for a New World“ zu finden. So heißt das Buch, das der Studienleiter vorstellte: „Ausgehend von dem Satz von Wittgenstein ,Die Grenze meiner Sprache ist die Grenze meiner Welt‘ möchte Albrecht Gefühle ausdrücken, die man nicht in Wort fassen kann.“ Eines dieser Worte, die Albrecht erfunden hat, ist Solastalgia. Dabei handelt es sich um einen Schmerz oder ein Leiden, die hervorgerufen werden durch die Unmöglichkeit, Trost durch den derzeitigen Zustand der die Menschen jeweils umgebenden Umwelt zu erlangen. Als weitere Beispiele nannte Horstmann „Erdzorn“ und „Wetterangst“. Und Endomophilia, womit die Liebe für das, „was er nur hier gibt“, gemeint sei. Bezeichnenderweise findet man auf Google kein Suchergebnis für das Wort. Dem Anthropozän, dem Zeitalter, in dem die Erdsysteme durch Menschen verändert wurden, stellt Albrecht das neue Symbiozän gegenüber, ein Zeitalter, in dem das Zusammenleben aller Arten für alle vorteilhaft ist.

Glenn Albrecht:  New Words for a New World, 256 Seiten, Cornell University Press, 19,95 Dollar.

Auf einem ganz anderen Feld hat sich Akademieleiter Dr. Martin Bock umgetan. Er empfiehlt die Lektüre der „Lebenslehre“ von Klaas Huizing. Der ist Professor für systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen an der Universität Würzburg und einer der produktivsten Theologen der Gegenwart. Als „Körpertheologie“ beschreibt Bock das, was Huizing, ganz und gar reformierter Theologe, betreibt. Es gebe viel Körperfeindliches in der Theologie. Die habe bei der Gottesbeziehung des Menschen meist auf die „Sünde“ gesetzt und darauf, dass das Heil des Menschen in der Erlösung von dieser Sünde bestünde. Französische Philosophen verträten die Meinung, dass man das Denken viel zu lange nur im Kopf verortet habe. Sie interpretierten jeden Gedanken als körperliches Begehren, das von einem Begehren zum nächsten führe. „So entdecke ich die Welt“, erklärte Bock. Alles andere als körperfeindlich sei die jüdische Theologie. Da bedanke man sich regelmäßig bei den Körperöffnungen. Gefühle könne man auch als überpersönliche Mächte und Atmosphären interpretieren, „die mich überfallen. Gefühle erschließen sich auch das Göttliche. Der Protestantismus hat da noch viel zu lernen.“ Und da sei man nah bei Hannah Arendt, die die Menschen als „geborene Menschen“ betrachte im Gegensatz zu Martin Heidegger, nach dessen Denken das Leben nur auf den Tod hinauslaufe. „Wir wollen wild denken“, wies Bock auf ein Seminar hin, das er gemeinsam mit dem Kölner Studierendenpfarrer Jörg Heimbach vorbereitet.

Klaas Huizing: Lebenslehre. Eine Theologie für das 21. Jahrhundert, 776 Seiten, Gütersloher Verlagshaus, 38 Euro.

Studienleiterin Lena Felde stellte kein Buch vor. Der Grund war denkbar schlicht und deshalb schnell erzählt: „Ich habe zu meinem Thema keins gefunden.“ Felde möchte sich in diesem Jahr in Zusammenarbeit mit der Karl-Rahner-Akademie dem Thema Graffitis widmen. Nachdem man im vergangenen Jahr unter dem Motto „Die Stadt der Zukunft“ eine Sommerakademie in Ehrenfeld veranstaltet habe, geht es nun nach Chorweiler. „Wir werden die Menschen aus dem Veedel bitten, uns ihren Stadtteil vorzustellen.“ Erste Kontakte auch zu migrantischen Milieus sind geknüpft. Im Juni ist eine Podiumsdiskussion in der Melanchthon-Akademie geplant. Dort wird über die Frage diskutiert: Ist Graffiti Kunst? Kunst sei zu lange kunstwissenschaftlich wahrgenommen worden. „Es fehlt der Leibaspekt“, sagte Lena Felde Martin Bock zugewandt. Graffitis könnten als Gegenbewegung zur Kunstwissenschaft und dem Zusammenführen von Kunst in Museen verstanden werden.

Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann

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